Grundlegende Informationen zum Thema Alterssimulationsanzug
2 Nachfolgende Entwicklungen
2.1 Alterssimulationsanzug Third Age Suit von Ford
2.2 Alterssimulationsanzug am MIT – Massachusetts Institute of Technology
2.3 Alterssimulationsanzug R70 von Genworth
3 Wissenschaftliche Gültigkeit – Validität
1 Alterssimulationsanzug: die Erfindung
Wenn ein Gegenstand einen Geburtstag haben kann, dann war es der 10. Mai 1994. An diesem Tag lief eine Meldung über den Ticker Deutschen Presseagentur (dpa) mit dem Titel „Mit 17 fühlen wie mit 70 – Der ‘Age Simulator’ macht es möglich”.
Anfang der 1990er Jahre hatte Deutschland begonnen, sich für den demografischen Wandel zu interessieren. Deshalb stiess die dpa-Meldung über einen Alterssimulationsanzug auf sehr grosses Interesse.
Der Erfinder, ein junger Verhaltenswissenschaftler, war selbst überrascht. Seit 1985 hatte Dr. Gundolf Meyer-Hentschel sich mit Fragen des demografischen Wandels beschäftigt. Immer, wenn er bei seinen Vorträgen und Workshops das Thema „Altern“ und die dahinter liegenden biologischen Prozesse angesprochen hatte, war das Interesse des Publikums begrenzt.
Dies führte zu der Idee, die Theorie des Alterns durch ein praktisches Erlebnis des Alterns zu ergänzen. Doch zunächst warteten fast 4 Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf den Erfinder.
- Welche verlässlichen Daten über den Alterungsprozess waren verfügbar?
- Welche biologischen und psychischen Auswirkungen des Alterns waren unter den Aspekten der Praxis am wichtigsten. Und vor allem:
- Wie könnte man diese Auswirkungen, Einschränkungen am besten erlebbar machen?
Der Prototyp Alterssimulationsanzug
Nach vielen Entwicklungsschritten und Versuchen war der Prototyp für einen Alterssimulationsanzug fertig. Gundolf Meyer-Hentschel und seine Mitarbeiter erprobten diesen Prototyp selbst immer wieder, stunden- und tagelang. Schliesslich waren sie der Überzeugung, dass der von ihnen entwickelte Altersimulationsanzug fundiert und praktikabel war.
Nach den positiven Reaktionen der Medien fasste Gundolf Meyer-Hentschel den Entschluss, den Alterssimulationsanzug in einem Beratungsprojekt für ein Schweizer Detailhandelsunternehmen einzusetzen. Für dieses Projekt bekam der erste Alterssimulationsanzug 12 „Geschwister“, die bald die Reise in die Schweiz antraten.
Der Alterssimulationsanzug überzeugte den Auftraggeber, weil er die zuständigen Mitarbeiter begeisterte und nachhaltig motivierte, sich mit dem Thema älterer Kunden zu befassen.
Inzwischen hat Gundolf Meyer-Hentschel’s Unternehmen Altersanzüge unter den Namen AgeExplorer® und AgeMan® in viele Länder der Welt verkauft. Tausende von Menschen haben an den Workshops des Meyer-Hentschel Instituts und an Events mit den Altersanzügen teilgenommen.
2 Alterssimulationsanzug: Nachfolgende Entwicklungen
2.1 Alterssimulationsanzug Third Age Suit von Ford
1994 kontaktierte die Ford Motor Company das Ergonomics and Safety Research Institute (ESRI) der britischen Loughborough University.
Sie wollten, dass ihre internen Ergonomen und Designer die Bedürfnisse älterer Autofahrer besser verstehen, um diese Bedürfnisse beim Design neuer Fahrzeuge zu berücksichtigen.
Die Ergonomie-Wissenschaftlerin Sharon Cook vom ESRI erinnert sich: “Ford knew that simply telling their ergonomists and designers about the problems older drivers faced was not enough – they needed to experience them in order to gain a true understanding.“
Ende 1994 war der erste Third Age Suit fertig und wurde an Ford geliefert.
2.2 Alterssimulationsanzug am MIT – Massachusetts Institute of Technology
1999 – fünf Jahre nach Erfindung des Alterssimulationsanzug in Deutschland – gründete das renommierte Massachusetts Institute of Technology, Boston, ein AgeLab. Die Zielsetzung ist: „neue Ideen zu erfinden und Technologien kreativ in praktische Lösungen umzusetzen, um die Gesundheit der Menschen zu verbessern und ihnen zu ermöglichen, auch im Alter selbständig zu leben.“
Um dieses Ziel zu erreichen, wird u.a. ein Alterssimulationsanzug eingesetzt, den man AGNES genannt hat. AGNES steht für Age Gain Now Empathy System.
AGNES wurde von AgeLab-Forschern und Studenten entwickelt und wurde so kalibriert, dass es in etwa die Motorik, die Sehkraft, die Beweglichkeit, die Geschicklichkeit und die Kraft einer Person ab einem Alter von Mitte 70 abbildet.
Den Alterssimulationsanzug AGNES nutzen Studenten, Produktentwickler, Designer, Ingenieure, Marketers Planer, Architekten, Verpackungsingenieure und andere. Ziel ist es, die physischen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Altern besser zu verstehen.
AGNES wird u.a. im Einzelhandel, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Automobil und am Arbeitsplatz eingesetzt.
Ein Interview mit AgeLab Director Joseph F. Coughlin.
Ein Video von NBC Today, 2011 (7:27)
Weitere Videos in der Mediathek
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2.3 Alterssimulationsanzug R70 von Genworth
Genworth ist ein weltweit tätiges US-amerikanisches Versicherungsunternehmen. Das Unternehmen hat 2014 begonnen, einen Alterssimulationsanzug zu entwickeln. Die Hauptzielrichtung besteht in Öffentlichkeitsarbeit für das Thema „Altern“.
Am 20. November 2014 präsentierte Glenworth seinen Alterssimulationsanzug mit dem Namen R70. Der Name R70 bezieht sich auf die Realität, dass 70 Prozent der Amerikaner im Alter von 66 und älter Langzeitpflege in Anspruch nehmen (Quelle)
The Genworth R70 simulates the following afflictions:
- State of the art helmet with acoustic muffling that gives the effect of hearing loss that often occurs with aging
- Lenses that simulate declines in vision plus the common vision disorders that occur with aging (e.g. glaucoma, cataracts, diabetic retinopathy, macular degeneration)
- Restrictive fabrication that gives the effect of arthritis in the knees, spine and elbows
- Boots that bring to life the balance disorder that occurs with aging
- Gloves that impair dexterity, similar to the effects of arthritis, and weights to simulate muscle loss in the arms
- Restrictive internal mechanism to affect the problems that older people experience with posture
Nur 7 Monate später, am 30. Juni 2015, präsentierte Genworth eine Exoskeleton Variante des R70, mit entsprechenden IT-Erweiterungen. Der Name des R70 wurde deshalb zu R70i erweitert.
The Genworth R70i Aging Experience functions as an enhanced and more sophisticated version of Genworth’s original Age Simulation Suit. It allows wearers to experience a variety of the physical changes associated with aging, which are simultaneously measured and graphically illustrated on nearby monitors for onlookers to witness and discuss.
„We know that people are living longer, healthier lives but we also know that the majority of those people will also need some form of long term care,“ says Tom McInerney, President and CEO of Genworth. „We have always believed that the first step in planning for the future is having a conversation. The problem is that people don’t talk about it – and most wait too long to have this conversation. For that reason, Genworth has taken an innovative approach to shining a spotlight on the importance of this conversation by creating the Genworth R70i Aging Experience.“
Weitere Informationen zum Alterssimulationsanzug Genworth R70
3 Wissenschaftliche Gültigkeit (Validität) Alterssimulationsanzug
Seit den 1990er Jahren hat das Thema Alterssimulationsanzug bzw. Alterssimulation eine immer grössere Bedeutung bekommen, vor allem in der Gesundheitswirtschaft. Insofern stellt sich die Frage nach der wissenschaftlichen Gültigkeit des Verfahrens Alterssimulation. Und natürlich im zweiten Schritt die Frage nach der Validität der verwendeten Altersanzüge bzw. Hilfsmittel.
Zur Sinnhaftigkeit einer Selbsterfahrung durch eigenes Erleben des Alters gibt es offensichtlich einen breiten Konsens.
Eine Vielzahl von medizinischen Fakultäten nutzen Alterssimulation bzw. Instant Aging in Lehrveranstaltungen für Medizinstudierende und Forschungsprojekte.
Dazu zählen u.a. die Universitätsmedizin der Charité, Berlin, die Universität Zürich (Klinik für Zahnmedizin), die European Medical School Oldenburg-Groningen, der Lehrstuhl für Innere Medizin/ Geriatrie der Universität Nürnberg.
Die Bundesärztekammer hat in ihr Weiterbildungs-Curriculum „Geriatrische Grundversorgung“ ein Modul „instant aging“ als verpflichtend für alle teilnehmenden Ärzte aufgenommen.
Vor diesem Hintergrund kann man davon ausgehen, dass das Verfahren der Alterssimulation den Kriterien der Face- bzw. Experten-Validität genügt.
Um die Zweckmässigkeit der Methode Alterssimulation zu bewerten, kann man auch die Probanden befragen, die an entsprechenden Workshops, Schulungen usw. teilgenommen haben. Für die Gesundheitswirtschaft sind entsprechende Daten einer Dissertation (Filz, 2008) verfügbar.
Für den Möbeleinzelhandel gibt es eine Studie von Hanne Meyer-Hentschel (2012).
Beide Studien kommen zu vergleichbaren Ergebnissen: Eine grosse Mehrheit der Schulungsteilnehmer erlebt die eigene Erfahrung des Alters als nützlichen Input, um sich besser in alte Menschen einzufühlen.
Auch dies kann als Gültigkeit der Methode Alterssimulation interpretiert werden: Die Methode erreicht die beabsichtigten Ziele.
Eine aktuelle Meta-Studie (2020) über 17 Untersuchungen zum Verfahren der Alterssimulation finden Sie hier.
4 Alterssimulation – Instant Aging
Im Zusammenhang mit den Themen Alterssimulation und Alterssimulationsanzug stösst man häufig auf den Begriff Instant Aging (US Schreibweise) bzw. Instant Ageing (UK Schreibweise).Diese Formulierung wird vorwiegend in der Universitätsmedizin verwendet.
Der Begriff Instant Aging stammt aus dem deutschen Sprachraum und wurde vermutlich erstmals Anfang der 1990er Jahre von dem Geriater R. Heinrich verwendet. Im englischsprachigen Sprachraum taucht der Begriff 2003 zum ersten Mal auf, kann sich dort aber nicht durchsetzen.
„Instant“ steht für das „schnelle“ Altern, das mit einem Alterssimulationsanzug möglich ist.
Instant Aging Veranstaltungen haben inzwischen einen festen Platz in den Curricula vieler medizinischer Fakultäten. Als Beispiel sei genannt:
Simmenroth, Anne & Gágyor, Ildikó & Ahrens, D & Chenot, Jean-François & Fischer, Thomas & Scherer, M & M. Kochen, M. (2007). " Instant Aging " eine Unterrichts-Methode zur Verbesserung der Empathiefähigkeit von Studierenden gegen über Älteren und chronisch Kranken. ZFA - Zeitschrift für Allgemeinmedizin. 83. 2252-255.